Wer, wenn nicht wir!

Warum ich auch im Ruhestand Gewerkschaftsmitglied bleibe - Heike Lühmann in HLZ 12/21

Heike Lühmann, langjähriges GEW-Mitglied, ehemaliges Mitglied des Hauptpersonalrats der Lehrerinnen und Lehrer, ehemalige Vorsitzende des GEW-Bezirksverbands Nordhessen und seit 2018 pensionierte Lehrerin, diskutierte kürzlich mit früheren Kolleginnen und Kollegen aus ihrem Bekanntenkreis über die schwierige Arbeit der Lehrkräfte in Zeiten der Pandemie.
Alle waren sich einig, wie froh man sein könne, unter diesen Bedingungen nicht mehr arbeiten zu müssen. Dabei verwies sie auf einen Artikel in der HLZ, woraufhin eine aus der Runde sagte, sie habe den Artikel nicht gelesen, da sie nun, wo sie pensioniert sei, nicht mehr Mitglied in der Gewerkschaft sei. Darauf beschloss Heike, den folgenden Artikel zu schreiben...


Ich war schockiert...
Ich war schockiert, als mir eine frühere Kollegin beiläufig erzählte, dass sie mit ihrer Pensionierung aus der GEW ausgetreten ist und wie normal sie es fand – eine Frau, die ich bisher immer als sehr reflektiert, sehr kritisch bestimmte Missstände in der Gesellschaft benennend, engagiert für demokratische und soziale Rechte und für „Bildung für alle“ kämpfend wahrgenommen hatte. Noch betroffener war ich, als ich feststellte, dass noch weitere ehemalige Kolleginnen und Kollegen auch an meiner Schule mit ähnlichen Einstellungen ausgetreten waren. Es mag in Einzelfällen nachvollziehbare Gründe geben, aus der Gewerkschaft auszutreten, auch finanzielle. Bei meinen Bekannten ist das sicher nicht der Fall, denn sie sind als Pensionärinnen und Pensionäre zumeist nicht schlecht gestellt.


GEW: Auch für Ruheständler aktiv
Die Gewerkschaften kämpfen auch für Menschen im wohl verdienten Ruhestand: für Renten und Pensionen, von denen man leben kann, für Inflationsausgleich und gegen Altersarmut.
Die GEW bietet auch ihren Mitgliedern im Ruhestand Rechtsberatung und Rechtsschutz. Bei einem Streit um einen Beihilfeantrag wäre ich ohne die Informationen der GEW-Rechtsstelle und ihre Rechtsberatung aufgeschmissen gewesen.
Die GEW-Kreisverbände organisieren Unternehmungen und Treffen für Seniorinnen und Senioren und sorgen für den Zusammenhalt auch im Ruhestand.
Das Hauptargument, die Gewerkschaften zu unterstützen und in der GEW zu bleiben, heißt jedoch Solidarität. In Zeiten, in denen die Individualisierung gewollt ist und in der Gesellschaft voranschreitet, ist es enorm wichtig, eine Organisation zu stärken, die solidarisch für soziale und demokratische Rechte kämpft.


Stellen wir uns einmal eine Gesellschaft ohne starke Gewerkschaften vor:
• Wer würde den jahrelangen Kampf für bessere Arbeitsbedingungen und höhere Löhne bei Amazon führen?
• Wer würde sich auch international gegen Kinderarbeit, für Bildung für alle Kinder, für demokratische Rechte – in diesem Fall besonders die der Gewerkschaften – und eine Gestaltung der Globalisierung im Sinne   von fairen Löhnen und Arbeitsbedingungen gemeinsammit anderen Organisationen einsetzen?
• Wer würde die Solidarität mit verfolgten türkischen oder iranischen Gewerkschaftsmitgliedern organisieren?
• Wer würde sich in vorderster Reihe für die Gleichstellung von Frau und Mann am Arbeitsplatz einsetzen, sich gegen rechtsextreme, rassistische Tendenzen in der Gesellschaft und in den jeweiligen Arbeitsbereichen wehren?
• Ich bin erfreut, wie sich „meine GEW“ auch in ökologischen Fragen positioniert. Nicht nur junge Kolleginnen und Kollegen beteiligten sich während unserer Landesdelegiertenversammlung in Fulda spontan an einer Demonstration von Fridays for Future im Rahmen der weltweiten Klimastreiks.


Auch ich ärgere mich manchmal...
Natürlich bin auch ich nicht mit allen Beschlüssen, allen Personalentscheidungen und (manchmal auch fehlenden) Aktivitäten der GEW oder des DGB einverstanden. Dies wird hin und wieder als Grund für einen Austritt genannt, jedoch sollten wir bei aller Kritik nicht den Blick auf das große Ganze verlieren:
• Wer setzt sich seit Jahren für kürzere Arbeitszeiten und Klassenobergrenzen ein, die es ermöglichen, Schülerinnen und Schüler individuell zu fördern?
• Wer fordert konseqent bessere Bedingungen für Bildung in Kitas, Universitäten und allen Bildungsbereichen und eine Ausstattung, die es ermöglicht, sich nicht nur durchzuschlagen,sondern mit Freude und Erfolg zu erziehen, zu fördern, zu bilden, zu forschen?
• Wer kämpft für eine Inklusion, die ihren Namen verdient, und ein Bildungssystem, das mehr Chancengleichheit bietet als aktuell?
Mir fallen außer der GEW nur wenige Organisationen ein, die dies so konsequent und leidenschaftlich tun. Und das sind Ziele, die jede und jeder mit einem demokratischen und fortschrittlichen Anspruch vertritt, auch wenn sie oder er nicht mehr im Bildungssystem arbeitet.


Eine Solidargemeinschaft
Die Stärke einer Gewerkschaft und also auch der GEW bestimmt sich nach den Aktivitäten ihrer Mitglieder. Und bei so mancher Aktion können sich auch Rentnerinnen und Rentner, Pensionärinnen und Pensionäre beteiligen. Aber sie bestimmt sich auch nach der Zahl der Mitglieder, die ihre Beiträge zahlen und so Interessenvertretung für alle ermöglichen.
Ja, ich verstehe die Gewerkschaft auch als Solidargemeinschaft.
Wir „Alten“ sollten die Jungen im Bildungssystem Arbeitenden unterstützen. Die Arbeit ist nicht gerade einfacher geworden. Daher ist es auch nach Ende der Erwerbsarbeit so wichtig, in der GEW zu bleiben und sich weiterhin zu solidarisieren.
Heike Lühmann

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